In einigen kulinarischen Belangen ist Deutschland immer noch Entwicklungsgebiet mit einem dringenden Bedarf an Nachhilfe und Fortschritten. In einer Stadt wie Berlin genießt man glücklicherweise den Vorzug, gerade asiatische Küche auf sehr gutem Niveau konsumieren zu dürfen. Längst heißt es nicht mehr: „Komm, wir gehen heute zum Chinesen!“ Sondern die Auswahl lautet differenzierter: „Ich habe heute Lust auf Kanton/Sezuan/Peking/Hongkong/usw.-Küche.“
Seit einigen Jahren haben einige chinesische Restaurants auch (eine meist kleine Auswahl) Dim Sum Gerichte auf Ihre Speisekarten gesetzt. Dim Sum sind kleine Häppchen, die traditionell zu jeder Tageszeit zum Tee gereicht werden.
Yum Cha (=Tee trinken) und Dim Sum (=das Herz berühren) klingt nun beinahe nach einem ruhigen Pavillon im Garten mit einem leise plätschernden Brunnen und Klängen der Yueqin-Gitarre. Eine meditative Stimmung, die wir nun sowas von absolut über Bord werfen können, sobald wir den ersten Schritt ins Jing Fong im New Yorker Chinatown getan haben.
Mehr als ein Schritt ist auch gar nicht möglich, denn an der Rezeption warten dutzende Hungrige auf einen freien Platz im Restaurant. Wartenummern werden verteilt und später über eine knarzige Mikrofonanlage (Made in…?) ausgerufen.

Hungrige Blicke an der Rezeption
Spontaner Jubel bricht aus, sobald die richtige Nummer ausgerufen wird. Irrtümlich könnte man meinen, auf einer Lotterieveranstaltung gelandet zu sein. Der frohe Glücksnummernbesitzer gewinnt auch tatsächlich, nämlich eine Freifahrt auf der hauseigenen Rolltreppe, die direkt in das Restaurant im Obergeschoss führt.

No. 106 hat eine Rolltreppenfahrt gewonnen
Zwei Arten von Dim Sum Restaurant lassen sich unterscheiden. Einerseits diejenigen, bei denen man ganz normal aus einer Speisekarte aussucht und seine Bestellung aufgibt; andererseits solche, bei denen die diversen Gerichte auf Servierwägelchen herumgefahren werden und die Gäste spontan auswählen. Letztere sind meistens in recht stattlichen Räumen untergebracht, aber so etwas wie das Jing Fong hatte ich zuvor noch nicht erlebt.

Riesig und doch nicht groß genug
Diese „Trolley-Dim Sum“ genannten Restaurants gelten unter Kennern oft als die Zweitklassigen, was einleuchtet, da in den ersteren die Gerichte ja ganz heiß und frisch zubereitet an den Tisch kommen. Der Vorteil mit den Trolleys ist offenkundig der, dass man sieht, was man bestellt und neugierig sein darf. Gerne erklären die Bedienungen, worum es sich handelt.

Trolley on Tour
Und los geht es mit all den präsentierten Köstlichkeiten. Gedämpft, gebraten, frittiert, gebacken, in Lotusblätter gewickelte Rollen, Kuchen, Teigtaschen, Reisnudeln, Spare Ribs, Hühnerfüße, soft-shell Crabs und etliches mehr. Süße Happen sind ebenfalls im Angebot.

Wer hat aus meinem Bambuskörbchen gegessen?
Für jeden Teller und jeden Korb wird eine kryptische Markierung auf einem Formular vorgenommen, mit dem nach dem Essen an der Kasse abgerechnet wird. Das mulmige Gefühl, nicht zu wissen, welche horrenden Summen sich hinter den Symbolen verbergen mögen, wird beim bezahlen durch erleichtertes Ausatmen abgelöst. Selbst wirklich hungrige Gerneesser werden die $20 Grenze (pro Person) nur mit Mühe knacken.

Mysteriöse Abrechnung
Mit selbigem Zettel in der Hand kann sich der Gast auf Wanderschaft durch das riesige Restaurant begeben und stößt auf ein Buffet, an dem zusätzliche Hauptgerichte und Gemüse bereit stehen, um die Happen zu ergänzen. Vor allem in größeren Runden macht es Laune, den Tisch mit allen möglichen bekannten und unbekannten Fressalien zuzustellen.

Wenn das Wägelchen auf sich warten läßt, wandern wir zur Warenausgabe.
Ach so, Tee wird übrigens immer wieder nachgereicht, steht aber nicht wirklich im Mittelpunkt. Bitte, bitte Bescheid geben, falls jemand ein solches Trolley-Restaurant in Deutschland entdeckt!
Einen faszinierenden aktuellen Lichtblick aus Dim-Sum-Duisburg vermeldet bereits der geschätzte Herr Kraska in seinem sehr amüsanten und beachtenswerten Artikel.
Jing Fong Restaurant, 20 Elisabeth Street, zwischen Bayard und Canal St. Manhattan, New York City (täglich ab 09.30 Uhr)
Wenn ich an die aktuellen Grenzkontrollen denke, muss ich Dir natürlich recht geben. Da haben die Amis wohl aus den Rosenholz-Dateien (schlecht) gelernt.
Und das mit dem Begrüssungsgeld haben sie echt falsch verstanden, daher müssen jetzt $10 gezahlt werden. Unverschämtheit.
Och, die USA haben mich in vielerlei Hinsicht an die DDR denken lassen, nicht nur bei der Großgastronomie. Da war auch der Held der Arbeit, dem der Verkäufer des Monats entsprach und die unvergleichliche Schlichtheit, die man an vielen Dingen des täglichen Bedarfs identisch (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) finden konnte, obgleich es mir in Nachhinein fast so vorkommt, als ob die in der DDR ein höheres Niveau gehabt hätten. Und mit den ganzen Gewese in der Buschzeit schienen sie mir die DDR auch in vielen Dingen eingeholt zu haben ohne zu sie zu überholen. Wird der Zwangsumtausch inzwischen erhoben oder ist er wieder vom Tisch?
Keine Sorge, ich habe letztens in NYC auch schlecht & teuer gegessen. Demnächst mehr.
oh mann. da bekomm ich aber so richtig appetit! hoffentlich komm ich dieses jahr noch nach nyc… herrlich, daß man dort so gut & so preiswert essen kann.
Schon Leonard Cohen, der alte Zen-Mönch, hat doch gesungen: „First we take Manhattan, then we’ll take Berlin..“. Vielleicht war es umgekehrt…
Hmmm, wunderte man sich in DDR bei der „Sie werden platziert!“ Ermahnung nicht meist über gähnend leere Lokale? Im kulinarischen Vergleich der kommunistischen Küchen ist mir der Untergang der DDR lieber, als der Chinas.
Und Nordamerika: Der New Yorker an sich steht tatsächlich sehr oft in einer Schlange, wenn es etwas (gutes) zu Essen gibt. Weitere Parallelismen zur DDR? Lieber Vilmos, Du würdest in meiner Zitatensammlung unsterblich, wenn Du Dich zu einem wahnwitzigen Satz hinreißen könntest, wie: „Wenn ich Manhattan sehe muss ich immer spontan an die DDR denken.“ Wie wär´s?
Auf der Suche nach einem „anheimelnden“ Lokal, würde man vermutlich in jedem Chinatown dieser Welt traurig verhungern. Helles Licht, meist sachliches Interieur, Stimmengewirr und reichlich Gewusel müssen in Kauf genommen werden.
Für das hierzulande übliche mitteleuropäische Bedürfnis nach „Gemütlichkeit“ wurden die typischen Asia-Kitsch-Restaurantausstattungen erfunden. So à la achteckige bemalte Holzimitatlampen mit rotem Bommel dran. In diesen Restaurants wird dann auch gerne „Chop Suey“ angeboten, ein in China unbekanntes Gericht zur Resteverwertung.
Nordamerikanische Großgastronomie, 500 Plätze, wait to be seated – immer wieder erinnert mich das irgendwie an die verflossene DDR, aber das Essen scheint wohl besser zu sein.
Das Jing Fong macht einen wirklich anheimelnden Eindruck. Dagegen ist mein Sushi-Japaner mit seinem Häppchen-Fließband ja noch ein echter Gemütlichkeits-Asiate!